Anhörung im Gesundheitsausschuss: Einführung der Widerspruchsregelung
Stellungnahme Bündnis ProTransplant
Zazie Knepper
24. Jan. 2025 · 8 Min. Lesezeit
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Weder die 2019 in Kraft getretenen Strukturverbesserungen noch das 2020 beschlossene Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft haben zu einer Erhöhung der Zahl der Organtransplantationen geführt. Keiner der 83 Millionen Bürgerinnen und Bürger kann damit rechnen, in angemessener Zeit eine Organspende zu erhalten, falls er oder sie eine solche benötigt. Für viele enden die langen Wartezeiten in Deutschland mit dem Tod. Die Notwendigkeit, dies zu ändern, wird von niemandem bestritten. Deshalb wurde eine entsprechende Gesetzesinitiative sowohl seitens des Bundesrats als auch einer Gruppe von Bundestags-Abgeordneten initiiert, um auch in Deutschland die Widerspruchsregelung (WSR) einzuführen. Das Bündnis ProTransplant, ein breiter Zusammenschluss von mehr als 30 Patientenverbänden, Selbsthilfegruppen und namhaften Unterstützerinnen und Unterstützern, begrüßt diese Initiativen ausdrücklich.
WassiehtderGesetzesentwurfvor?
Unter einer WSR wird angenommen, dass eine Zustimmung zur Organspende besteht, wenn kein Widerspruch vorliegt. Sollte eine Person als Organspenderin oder Organspender infrage kommen, wird überprüft, ob eine explizite Zustimmung des möglichen Organspenders vorliegt. Liegt diese vor, werden die Angehörigen nicht mehr befragt. Liegt ein Widerspruch in Dokumenten oder im Organspenderegister vor, findet keine Organentnahme statt. Liegt keine Erklärung vor, werden die Angehörigen befragt, ob ihnen der Wunsch der Person bekannt ist.
Der Gesetzentwurf sieht eine Übergangsfrist von zwei Jahren vor. In den letzten sechs Monaten vor Einführung der WSR wird jeder Bürger bzw. jede Bürgerin ab 14 Jahren drei Mal angeschrieben und umfassend über die WSR und die individuellen Optionen informiert.
Gemäß dem Entwurf dürfen bei Personen, die offenkundig nicht einwilligungsfähig sind, keine Organe entnommen werden. Minderjährige ab 14 Jahren dürfen eigenständig (ohne Zustimmung der Eltern widersprechen), Minderjährige ab 16 Jahren dürfen eigenständig einer Organspende zustimmen.
Ein Widerspruch lässt sich auf mehreren Wegen erklären: - Die Angehörigen werden informiert. - Ein Organspendeausweis wird mit der Option „Nein“ ausgefüllt. - Der Widerspruch wird in der Patientenverfügung hinterlegt. - Der Widerspruch wird in das Organspenderegister eingetragen. - Auch ein einfacher Zettel im Portemonnaie genügt.
Bereits in der aktuellen Gesetzgebung ist die Voraussetzung, um Organspenderin oder Organspender zu werden, der komplette Ausfall der Hirnfunktion und der dadurch eintretende Tod. Das kommt sehr selten vor. Die Ursache ist meist ein Schlaganfall, eine Hirnblutung oder ein Unfall mit schwerer Hirnschädigung, also ein plötzlicher, tödlicher Unglücksfall. Der Hirntod kann nur auf einer Intensivstation festgestellt werden. Jährlich sterben in Deutschland ca. 1 Mio. Menschen. Etwas weniger als 1.000 werden zurzeit Organspenderin oder Organspender, weil sie einen Hirntod erlitten und einer Organspende zugestimmt haben. Dies sind ca. 0,1% der Verstorbenen. Somit sind 99,9% der Bevölkerung von der Regelung grundsätzlich nicht betroffen.
Welche Argumente sprechen für die Widerspruchsregelung?
Die 2019 und 2020 beschlossenen Maßnahmen haben keinerlei Wirkung gezeigt. Es ist davon auszugehen, dass die WSR als wichtiger Baustein fehlt.
Repräsentativbefragungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben gezeigt, dass 84% der Bevölkerung die Organspende positiv sehen und dass 73% im Falle eines Hirntods ihre Organe spenden würden.1 Für diese Menschen, also eine Mehrheit, ist die WSR eine Erleichterung, weil sie nichts weiter tun müssen. Die ausbleibende Beschäftigung mit der schriftlichen Dokumentation ist menschlich, weil das bedeuten würde, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, was viele Menschen jedoch vermeiden.2
Die Selbstbestimmung steht an oberster Stelle. Hat die hirntote Person zu Lebzeiten einer Organspende widersprochen, können die Angehörigen keine andere Entscheidung herbeiführen. Das Ganze gilt auch umgekehrt.
Bei der WSR geht es nicht darum, über Menschen hinweg zu entscheiden. Es geht darum, dass jeder aufgefordert ist, eine individuelle Entscheidung zu treffen.
Jede und jeder kann vorsorglich, also ohne Beschäftigung mit dem Thema, widersprechen. Die Entscheidung wird respektiert und zieht keinerlei Nachteile nach sich. Auch wer widersprochen hat, bekommt im Falle des Falles eine Organspende, wenn er sie braucht und wünscht.
Das gesellschaftliche Signal, welches von einer solchen Regelung ausgeht, lautet: Organspende ist wünschenswert, aber sie ist keine Pflicht. Das individuelle Recht, sich anders zu entscheiden, bleibt erhalten.
Die WSR gilt bereits in 28 Ländern Europas, teilweise seit Jahrzehnten. In all diesen Ländern ist die Zahl der Organspenden deutlich höher als in Deutschland. Wie die langjährigen Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, kann das Gesetz so ausgestaltet werden, dass es allen nützt und niemandem schadet.
Die bisherige Regelung in Deutschland ist widersprüchlich: Jeden Tag werden in Deutschland Organe transplantiert, die über Eurotransplant kommen und aus Ländern stammen, in denen die WSR gilt.
Die WSR entlastet das Gesundheitssystem finanziell. Je länger zum Beispiel eine Dialysebehandlung dauert, desto kränker (und teurer für die Gesellschaft) werden die Patientinnen und Patienten. Ein Jahr Dialysebehandlung ist in etwa so teuer wie eine Nierentransplantation. Bei einer durchschnittlichen Wartezeit auf von etwa 10 Jahren entstehen Kosten in Milliardenhöhe.
Die WSR trägt dazu bei, die Abläufe in den Kliniken zu verbessern. Sie stärkt das Bewusstsein für die Organspende und hilft potenzielle Organspenderinnen und Organspender zu identifizieren. Das ist bereits heute gesetzliche Pflicht.
Die WSR ist ein echter Paradigmenwechsel, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Kultur der Organspende.
Kontroversen
Es gibt seitens der Gegner einer WSR keine neuen Argumente. Viele davon werden allein durch die Anerkennung der Realität entkräftet.
Immer wieder wird behauptet, es gäbe keine Evidenz dafür, dass die WSR zu mehr Organtransplantationen führt. Richtig ist: Die Studienlage ist nicht eindeutig. Es gibt Studien, die zeigen, dass ein Opt-out-System die Zahl der postmortalen Organspenden zum Teil deutlich steigert.3,4 So hat sich in Schweden die Zahl der Organspenden nach Einführung der WSR nach ca. 16 Jahren verdoppelt.5 Vergleiche mit anderen Ländern sind aufgrund der unterschiedlichen Gesundheitssysteme jedoch schwierig. Mit der Einführung der WSR ergäbe sich die einzigartige Möglichkeit, diese Debatte mit validen Daten zu unterfüttern, indem begleitend eine prospektive Studie aufgesetzt wird.
Das Selbstbestimmungsrecht bleibt gewahrt. Juristisch liegt eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts/Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht vor, da weder eine „Entscheidungs- noch eine Befassungspflicht vorliegt“, lediglich eine „Widerspruchslast“, die ein „gerechtfertigter Grundrechtseingriff“ ist.6
Die WSR ist nicht „die“ Lösung aller Probleme. Nach wie vor bedarf es weiterer Anstrengungen, um auch die strukturellen Probleme in den Kliniken anzugehen. Dazu gehört eine bessere personelle Ausstattung und eine ausreichende Anzahl an Transplantationsbeauftragten, die freigestellt werden müssen.
Der Hirntod ist weltweit ein medizinisch und wissenschaftlich akzeptiertes Kriterium. Wer daran rüttelt, rüttelt an der wissenschaftlichen Evidenz.
Betroffene fordern ihr Recht auf Leben und Gesundheit ein
Das Bündnis ProTransplant fordert, das Recht der Wartepatientinnen und Wartepatienten auf Leben in den Fokus zu stellen und den gescheiterten deutschen Sonderweg endlich zu verlassen. Die Betroffenen brauchen keine akademischen Debatten, sondern konkrete Hilfe, um am Leben zu bleiben. Jede und jeder kann auf ein Spenderorgan angewiesen sein − und wer in dieser Situation ist, möchte eins bekommen. Möchte weiterleben, und möchte, dass sein Kind weiterlebt.
Bei der Abstimmung im Bundestag gibt es keinen Fraktionszwang. Dennoch zeigt sich aktuell – wie auch 2020 – dass die existenzielle Not Schwerkranker von den Parteien ausgenutzt wird, um politische Deals einzufädeln. Die Bundestagabgeordneten sollten sich bewusst machen, dass ihre persönliche Entscheidung pro oder contra WSR einen Einfluss auf das Leben der Patientinnen und Patienten auf der Warteliste haben kann: Stehen sie auf der Seite von Leid und Tod oder stehen sie auf der Seite der Menschen, die leben möchten – und könnten?
Über das Bündnis ProTransplant: Das Bündnis ProTransplant ist ein Zusammenschluss von über 30 Patientenverbänden und Selbsthilfegruppen. Sein Ziel ist es, die Gesetzgebung zur Organspende und Organtransplantation so zu verbessern, dass jeder Mensch, der ein Organ benötigt, es innerhalb einer vertretbaren und mit unseren europäischen Nachbarländern vergleichbaren Wartezeit bekommt. Wir setzen uns für die Lebenschancen organkranker Patient*innen ein.