Dr. Annika Ollrog
12. Juni 2024 · 5 Min. Lesezeit
Wenn ein Kind schwer erkrankt, steht das Familienleben Kopf. Neben dem betroffenen Kind und seinen Eltern müssen auch die Geschwisterkinder mit der Situation umgehen lernen. Viktoria Mair, Psychologin im Rehabilitationszentrum Ederhof, erzählt im Gespräch mit Dr. Annika Ollrog, warum dies eine besondere Herausforderung ist und wie Geschwister von der Rehabilitation profitieren.
Dr. Annika Ollrog: Liebe Viktoria, am Ederhof betreut Ihr ja ausschließlich Familien mit Kindern vor und nach einer Transplantation. In welchen Konstellationen verbringen die meisten Familien denn die Reha? Kommen sie mit der ganzen Familie oder doch eher ein Elternteil mit dem erkrankten Kind?
Viktoria Mair: Wir arbeiten am Ederhof absolut familienorientiert. Wir betreuen also möglichst die gesamte Familie – beide Elternteile und auch die Geschwister. Die meisten Familien nehmen das sehr dankbar an, denn viele von ihnen haben lange Trennungszeiten hinter sich.
Wenn das erkrankte Kind längere Zeit in die Klinik muss, ist es oft die Mutter, die es begleitet. Der Vater versucht zuhause währenddessen den Alltag für die Geschwister aufrechtzuerhalten. Wenn die komplette Familie dann bei uns Zeit miteinander verbringen und Schönes erleben kann, ist das besonders wertvoll und es ist ein erster Schritt, um die schweren Erlebnisse gemeinsam zu verarbeiten.
Dr. Annika Ollrog: Warum ist es Deiner Erfahrung nach wichtig, dass auch die Geschwister mit zur Rehabilitation kommen?
Viktoria Mair: Wir sehen die Familie immer als gesamtes System, in dem jedes Familienmitglied auf seine Weise von der Erkrankung betroffen ist. Da ist zunächst das erkrankte Kind selbst. Dann die Eltern – die haben in der ersten Phase so große Sorgen, dass individuelle Bedürfnisse, die Partnerschaft und auch die Geschwister erstmal völlig in den Hintergrund rücken. Die Geschwister selbst haben natürlich auch Angst und zugleich müssen sie sich extrem anpassen. Mit den eigenen Gefühlen umzugehen und sich in ihrer Rolle innerhalb der Familie zurechtzufinden, kann für sie sehr herausfordernd sein. Manchmal ist es auch überfordernd, so dass sie psychische Auffälligkeiten entwickeln.
Dr. Annika Ollrog: Kannst Du das bitte noch einmal etwas erläutern?
Viktoria Mair: Das hat mehrere Ebenen. Zunächst verändert sich der Familienalltag sehr stark und muss mit Rücksicht auf das erkrankte Kind gestaltet werden. Krankenhausaufenthalte, Arzt- und Therapietermine sind zeitintensiv. Diese Zeit steht für das Geschwisterkind nicht zur Verfügung und vielleicht muss es auch von Freunden oder Verwandten betreut werden, was zu einem Gefühl der Vernachlässigung führen kann.
Ein in dieser Situation eigentlich normales Gefühl der geschwisterlichen Eifersucht ist dann aber gekoppelt mit der eigenen Angst um den Bruder bzw. die Schwester und möglicherweise Schuldgefühlen, selbst nicht die gleichen gesundheitlichen Probleme zu haben. Die Kinder spüren zudem die Sorgen ihrer Eltern und sehen deren Bemühungen, um den Alltag zu stemmen. Das kann dazu führen, dass sie sich selbst zurückziehen, um nicht zusätzlich zur Last zu fallen. So bleiben sie mit ihren Gedanken und Gefühlen allein und das ist eine Überforderung.

Dr. Annika Ollrog: Woran erkennen Eltern denn, dass ein Geschwisterkind überfordert ist? Gibt es „typische“ Verhaltensweisen oder Entwicklungen?
Viktoria Mair: Es ist nicht zwangsläufig so, dass die Geschwister psychische Auffälligkeiten entwickeln. Die Empathie, die die Kinder in dieser Situation aufbringen müssen, kann auch eine besondere Ressource sein. Wenn es aber zur Überforderung kommt, können sich unterschiedliche Ausprägungen von Anpassungsstörungen, Angst, Somatisierungsstörungen oder Depressionen entwickeln. Vielleicht ziehen die Kinder sich dann sehr zurück oder sie verlieren das Interesse an Schule und Hobbies. Wir versuchen daher immer, den Geschwisterkindern einen Rahmen zu bieten, in dem sie sich mitteilen können und in dem sie sich gehört und gesehen fühlen. Das muss nicht immer über Gespräche laufen. Manche Kinder drücken sich auch eher über kreative Angebote aus.
Dr. Annika Ollrog: Welche Angebote habt Ihr für die Geschwisterkinder denn konkret?
Viktoria Mair: Wir bieten ihnen individuelle Gespräche an und wir haben auch Geschwistergruppen, in denen sich nur die Geschwisterkinder untereinander austauschen. Beide Formate ermöglichen es ihnen, Themen anzusprechen, die sie mit ihren Eltern nicht besprechen möchten. In der Gruppe erleben sie häufig erstmals, dass sie mit ihrer Situation nicht allein sind, und sie fühlen sich mit ihren Gedanken und Gefühlen verstanden und aufgehoben. Die Gruppen arbeiten miteinander durch Gespräche, aber auch durch gemeinsame Aktivitäten. Zudem verbinden wir sie auch mit Sachinformationen rund um die Transplantation, damit die Kinder Ängste und Unsicherheiten hinsichtlich der Gesundheit ihres erkrankten Geschwisterkindes thematisieren und abbauen können.
Dr. Annika Ollrog: Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang denn erlebnispädagogische Angebote für die Reha-Gruppe und die Familien?
Viktoria Mair: Erlebnispädagogische Aktivitäten und gemeinsame Ausflüge fördern die soziale Verbundenheit der Kinder untereinander und innerhalb der Familie. Dabei ermutigen wir auch die Geschwisterkinder, sich auszudrücken und Neues auszuprobieren, um die eigenen Stärken und Interessen zu entdecken. Es geht hier eben explizit auch um sie und um die ganze Familie und nicht nur um das erkrankte Kind. Wir schauen immer ressourcenorientiert und versuchen, bei den Stärken der einzelnen Kinder anzusetzen. Zudem darf nicht unterschätzt werden, dass gemeinsame Erlebnisse den Weg für Dialog und Austausch ebnen können. Ein wichtiges Ziel der Reha ist schließlich auch, die Kommunikation innerhalb der Familien zu fördern. Insofern ist es sehr wichtig, dass die Geschwister die Reha begleiten und hier besondere Beachtung finden.
Dr. Annika Ollrog: Liebe Viktoria, hab vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Dr. Annika Ollrog. Sie leitet die Geschäftsstelle der Rudolf Pichlmayr-Stiftung, Trägerin des Rehabilitationszentrums Ederhof für Kinder, Jugendliche und Familien vor und nach Organtransplantation.